Eine wahre Geschichte

Arif (Name wurde geändert) aus Syrien, lebt seit April 2015 in Wernau. Nach vielen vergeblichen Versuchen, auf legalem Weg nach Deutschland reisen zu können und so dem Krieg in Syrien zu entkommen und seine Familie in Sicherheit zu bringen, entschloss er sich im Dezember 2014 zur Flucht, alleine, ohne Frau und Tochter. Er war fast 3 Monate unterwegs und entging auf seiner Flucht nur knapp dem Tode. Mittlerweile ist seine Familie ebenfalls in Wernau angekommen. Das neue Leben hat begonnen. Folgendes Interview haben wir mit ihm geführt:

Was vermisst du in Deutschland am meisten?
Am meisten vermisse ich meine Heimat, meine Mutter, meine Geschwister. Sie leben alle noch in Syrien, in Homs und Umgebung. Ich habe Angst um sie alle. Mein Vater ist bereits vor einigen Jahren gestorben. Ihn vermisse ich auch sehr, wir hatten ein sehr gutes Verhältnis und ich habe viel von ihm gelernt.

Und was vermisst du am wenigsten?
Am wenigsten vermisse ich den Verkehr. In den Straßen von Damaskus ist der Verkehr unglaublich. Jeder hupt, und man kann kaum atmen, weil die Luft voller Abgase ist. Es ist ein einziges Chaos. Aber manchmal vermisse ich diesen Verkehr, dieses Treiben, diese Lebendigkeit sogar ein bisschen. Auch das ist ein Stück Heimat, das ich verloren habe.

Wie lange musstest du überlegen, um dich zur Flucht zu entscheiden? Was war der Auslöser?
Ich hatte ca. 2 Jahre lang versucht, auf regulärem Weg Visa für mich und meine Familie zu erhalten. Wir waren auf der brasilianischen, der deutschen, der belgischen, der schwedischen und der amerikanische Botschaft und versuchten dort, Visa zu beantragen – ohne Erfolg. Zudem versuchten wir, über die UN auszureisen. Als uns dann auch noch die italienische Botschaft abwies, sagte ich im Spaß, nun würde ich eben über Land nach Europa fliehen. Anfangs glaubte ich das selbst nicht, aber innerhalb einer Woche wurde aus Spaß Ernst und eine weitere Woche später machte ich mich auf den Weg.

Wie hat deine Frau reagiert, als du von deinen Fluchtplänen erzählt hast? Warum bist du alleine geflohen?
Meine Frau hat geweint. Aber es war ihr klar, dass wir in Syrien keine Zukunft haben. Weil die Flucht für unsere Tochter zu gefährlich gewesen wäre, hat sie schließlich zugestimmt, dass ich es alleine versuche. Ich hatte ihr fest versprochen, nur auf sicheren Wegen zu gehen und keinesfalls mit einem Boot zu fahren. Damals wusste ich noch nicht, dass ich dieses Versprechen nicht würde halten können und tatsächlich auf einem Boot landen und um mein Leben fürchten würde.

Erzähl von deiner Flucht nach Deutschland.
Von Beirut flog ich mit dem Flugzeug in die Türkei, nach Adana. Von Mersin aus versuchte ich 2 Monate lang, auf ein Schiff nach Italien zu gelangen. Jeden Tag legten wir mit einem Schlepperboot von der Küste ab, um ein Schiff zu erreichen. Jeden Tag mussten wir wieder an Land zurückschwimmen, weil uns die Schiffe nicht aufnahmen und die Bootsführer uns nicht im Boot zurück an Land nahmen. Das Meer war bitterkalt im Januar und Februar, wir waren jeden Tag klatschnass. Zum Glück waren wir eine ganze Gruppe Syrer. Alleine hätte ich das nicht durchgehalten. Irgendwann änderten wir unseren Plan und versuchten, mit einem Schlauchboot nach Griechenland zu kommen. Von Kos ging es dann mit einer Fähre nach Athen.

Von Athen wollten wir in Richtung Italien. Das Boot legte nachts ab. Das Meer war stürmisch, die Wellen wurden immer höher. Irgendwann war einer der beiden Motoren kaputt, der andere lief nur noch mit halber Leistung. Die Pumpe war defekt, also füllte sich das Boot immer mehr mit Wasser. Wir mussten unser Gepäck über Bord werfen, um nicht zu sinken. Und das bei stockdunkler Nacht. Bei dieser Aktion verlor ich auch meinen Talisman, einen kleinen Bären, den mir meine Frau als Glücksbringer mitgegeben hatte. Mir war klar, dass wir die Fahrt nicht überleben würden. Vor der Abfahrt hatte ich einen Freund informiert, dass ich mit dem Boot nach Italien fahren würde. Sollte er innerhalb der nächsten beiden Tage nichts von mir hören, müsse er meine Frau informieren. Das war es nun also. Ich war zutiefst verzweifelt. Die Kapitäne haben Anweisung, niemals umzudrehen. Aber offensichtlich hatte unser Kapitän noch nicht mit seinem Leben abgeschlossen. Obwohl er Drogen genommen hatte, war er noch so klar im Kopf, dass er nach 5 Stunden beschloss zu drehen. Es erschien mir wie ein Wunder. Nach 2 weiteren unendlichen Stunden erreichten wir tatsächlich Korfu.

Von dort ging es nach Athen, dann mit einem LKW nach Serbien, mit dem Zug nach Belgrad, mit dem Auto und zu Fuß an die ungarische Grenze. Von dort fuhr ich mit einem Auto nach Wien, von Wien mit dem Zug nach Saarbrücken. Insgesamt war ich 2 Monate und 23 Tage unterwegs.

Hast du deine Flucht schon mal bedauert?
Nein. Mir wäre dort nur die Armee geblieben und damit der sichere Tod – sterben oder sterben – , und vor allem unsere Tochter hätte in Syrien keine Zukunft gehabt. Bis zu ihrer Ankunft in Deutschland hatte sie nichts anderes als Krieg kennengelernt. Alles war schwierig, der Weg zur Schule, in die Kirche. Bei jedem Knall und jedem Geräusch hatte sie Angst. Es ist furchtbar, das eigene Kind voller Angst und Schrecken zu erleben. An Syrien hat sie keine guten Erinnerungen.

Welches war der schlimmste Moment/das schlimmste Erlebnis auf der Flucht?
Im Boot, auf dem Weg von Griechenland nach Italien. Ich war sicher, wir alle waren sicher, dass wir sterben würden. Ich hatte nur noch 2 Fragen: warum habe ich nicht auf meine Frau gehört? Und: werden sie unsere Leichen finden? Ich hatte mit dem Leben abgeschlossen.

Ab wann hast du dich sicher gefühlt?
Am 24.09.2016, als ich endlich meine Frau und meine Tochter auf dem Stuttgarter Flughafen in meine Arme schließen konnte.

Welches war der schlimmste Moment/das schlimmste Erlebnis in Deutschland?
Die annähernd 2 Jahre, die es gedauert hat, bis meine Familie in Deutschland ankam. Zuerst war es das lange Warten, bis ich als Flüchtling anerkannt wurde und den Antrag auf Familiennachzug stellen konnte. Dann dauerte es unendlich lange, bis meine Frau und meine Tochter einen Termin auf der Botschaft in Beirut erhielten. In Damaskus gibt es ja schon lange keine Botschaft mehr. Nach dem Botschaftstermin saß meine Frau 5 Monate auf gepackten Koffern. Immer wieder gab es Verzögerungen. Wir hatten schon nicht mehr daran geglaubt, dass das Warten irgendwann ein Ende haben würde.

Wie sieht deine Zukunft aus?
Meine Zukunft liegt noch etwas im Nebel. Ich bin Anwalt, deshalb ist es für mich nicht einfach, einen Arbeitsplatz zu finden. Aber ich bin sicher, dass meine Familie und ich es schaffen werden, hier Fuß zu fassen. Ich habe große Hoffnung und ich weiß, dass uns Deutschland viele Möglichkeiten bietet. Wir müssen diese Möglichkeiten nur nutzen.

Dankeschön
Der Freundeskreis Flüchtlinge Wernau und die in Wernau lebenden Flüchtlinge möchten sich bei der Wernauer Bevölkerung, den Betrieben und den Vereinen sehr herzlich für die Unterstützung in diesem Jahr bedanken, für die Sachspenden, die finanzielle Unterstützung, für die Aufnahme in den Verein, für die Freundlichkeit und für jedes Lächeln, das Sie, liebe Wernauerinnen und Wernauer, unseren neuen Nachbarn geschenkt haben. Vielen Dank auch an die Stadt Wernau für ihr offenes Ohr, ihr offenes Herz und ihre unermüdliche Unterstützung. Ein herzliches Dankeschön im Namen der Wernauer Flüchtlingskinder geht an Frau Birgit Mayer, die im Rahmen ihrer Weihnachtsaktion für die Kinder ein Weihnachtspäckchen geschnürt hat.

Wir wünschen allen ein frohes und besinnliches Weihnachtsfest. Ihr Freundeskreis für Flüchtlinge Wernau.